Jaenicke versteht eine weiße Fläche als ein Urereignis, also als ein Fundament, von dem aus weitergegangen werden muß. Aber er denkt noch grundsätzlicher: Urereignis ist auch als existentiell ursprünglicher Anfang gedacht, so dass eine nun durch die Hand des Malers herbeigeführte weiße Fläche die Erinnerung an diesen einstigen Ausgangspunkt wachruft und eine Spannung erzeugt, die zwischen dem „Urweiß“ und dem jetzigen Weiß entsteht.Die Eingriffe in die weiße Grundschicht sind vielfältiger Ausdruck der Spontaneität. Sie ist die Zündung der Aktion. Die Spontaneität aber gehört zu den reinsten Äußerungen einer Individualität.
Allmählich ergibt sich auf der Bildoberfläche ein bemerkenswert vielschichtiger Raum, der fern von jedem Illusionismus anregend ist, in ihm zu wandern. In Jaenickes Arbeiten geht es nicht darum, die weiße Fläche durch Bewegungen des Farbauftrags oder durch rhythmisch gegliederte Tönungen zu strukturieren (wie etwa Girke oder Ryman), sondern sie gleichsam in alle Richtungen zu bestimmen – durch Pastosität, durch Eindringen in die Bildtiefe, durch unterschiedliche und dabei formfreie Setzungen will er dem Weiß Gestalt geben.Mit verschiedenen Instrumenten greift er dieses Weiß an, schneidet es auf, kratzt es auf. Dabei bevorzugt er Geräte, die gleichzeitig wegnehmen und hinzufügen, z.B. das Messer, das in die weiße Schicht hineinschnei-det, das dabei aber auch mit einer Spur Rot besetzt ist oder lediglich eine feine, fragile Linie seines Metalls zeichnet. Dieser Farbton bleibt auf und in dem Weiß haften, dringt also mit dem Messer in die Haut der weißen Oberfläche ein und markiert sie.
Jaenicke macht die Fläche zum Raum, indem er in die Bildoberfläche eindringt. Aber auch in die entgegenge-setzte Richtung wird gearbeitet: Häufung, sei es durch die Massierung von Materie, sei es durch zufällige Farbablagerungen, durch pastose Schichtungen, führt zur Dreidimensionalität und verbreitert den Raum. Diese Art der Raumbestimmung ist zunächst nicht ungewöhn-lich, aber es charakterisiert Jaenickes Werk, mit welcher Methode er vorgeht – still, unauffällig, zurückhaltend, keinesfalls plakativ und dennoch prägnant für jeden der sehen kann.
Schließlich werden die Objektbilder auch von einem Zeitfaktor bestimmt. Dieser wird nicht nur wie einst schon in den Bildern Carl Buchheisters spürbar beim Verfolgen und Verlaufen auf den Wegen innerhalb einer Komposition, sondern auch durch das Nachvollziehen des Schaffensprozesses. Dieses Angebot, die Arbeiten in ihrer zeitlichen Tiefe zu lesen, bleibt dem schnellen und flüchtigen Blick auf die fertige Komposition verborgen.Die Arbeiten Hans-Christian Jaenickes zeigen Tendenzen der Verweigerung. Was wird verweigert und wem gegenüber tritt Verweigerung ein?
Verweigert wird das Mitmachen im lauten Konzert der öffentlichen Medien, der Bilderflut, der konsumerablen Bilderwelt, die täglich auf uns einstürzt, nicht nur in den neuen Medien, nicht nur im TV, sondern auch auf den Straßen von Klein- und Großstadt.Verweigert wird die Akzeptanz dieser freilich unaufhaltsamen Flut, verwei-gert wird das Mitläufertum. Jaenicke weiß um die Verflachung, die der Massenwahn herbeiführt.
Mit seinen Arbeiten bezieht er Stellung gegen die Aufgabe der Individualität und verweist auf Alternativen: Er fordert den Betrachter seiner Arbeiten auf, die Sinne zu schärfen und sie zur Verteidigung der Individualität einzusetzen.
(JÜRGEN WEICHARD, Hannover 1999)