Interview

 

Jazzdimensions

Tobias Richtsteig sprach in Hamburg mit Hans-Christian Jaenicke vom "Duo Diagonal"

Duo Diagonal - "Tango als Quersumme"

 

Ein Duo spielt den Tango: Das allein ist noch nicht bemerkenswert. Doch das "Duo Diagonal" lebt nicht nur von der Faszination für des Tangos mitreißende Rhythmik – immer wieder neu interpretieren Geiger Hans-Christian Jaenicke und Akkordeonist Jörg "Juri" Siegloch Adaptionen von Piazzolla bis Rubinstein wie eigene Kompositionen. Und die kunstvolle Musealisierung des Tango liegt ihnen fern ...

 

Tobias: Gestern war CD-Release, heute probt ihr bereits wieder? Was habt ihr denn schon wieder vor?

Hans-Christian: Dumm gelaufen! (lacht) – Wir haben im Studio einige Sachen eingespielt, die wir eigentlich nicht fest im Repertoire hatten. Das heißt, jetzt, wo die CD raus ist, müssen wir proben, damit wir diese Stücke auch live bringen können.

Tobias: Hattet ihr denn die Stücke nicht auch live eingespielt?

Hans-Christian: Schon, aber ... man ist anders konzentriert im Studio. Also, mir geht's so, dass es mir schwerfällt, vom technischen Denken wegzukommen. Im Studio ist man von Technik umgeben. Man kuckt durch so 'n Fenster, kriegt kein Feedback von Publikum. Und die Situation bestimmt, was du tust.

Tobias: Das wird ja auch in euren Konzerten deutlich: Wie ihr zusammen spielt, ist sehr kommunikativ. Wie festgelegt seid ihr auf der Bühne in euren Arrangements?

Hans-Christian: Ja, wir legen die Dinge beim Proben schon ziemlich genau fest, um eine Basis zu haben, auf der man sich dann frei bewegen kann. Das heißt, wenn wir ein Arrangement schreiben und proben – auch Ton für Ton proben! – heißt das nicht, dass wir es auf der Bühne genauso spielen. Aber es ist eine Ausgangsbasis da, auf die wir jederzeit zurückkommen können: Aus dieser Sicherheit können wir frei agieren. Im Konzert kokettieren wir damit sogar, indem wir absichtlich anders spielen.

Die Leute wissen zwar nicht, was genau wir vorbereitet haben, aber sie merken, es "passiert" was: Es passiert etwas zwischen uns. Ich merke, oh, der Juri spielt das anders, rhythmisiert 'ne Stelle neu, da werde ich auch anders einsteigen! So entstehen auf der Bühne Dinge, die für uns spannend sind. Und ich denke, dass das Publikum dies auch mitbekommt: Ah, da ist unmittelbar ein kreativer Prozess im Gange.

Sonst hält man das auch gar nicht aus! Ich kenne das von Theaterproduktionen in Wilhelmshaven, da haben wir zum Beispiel "Im weißen Rössel" gespielt: Mit vierzig, mit fünfzig Vorstellungen! (lacht) Und nach fünfzehn, sechzehn oder zwanzig Vorstellungen kann man das nur noch überstehen, wenn man sich immer wieder neue Herausforderungen setzt. Sonst droht das Niveau zu fallen.

Tobias: Ein wichtiger Aspekt beim Tango ist ja der Ausdruck. Tango ist ja ein sehr expressiver Tanz – in den Kritiken zu euren Konzerten steht immer wieder, dass Du sehr "performativ" damit umgingst.

Hans-Christian: Ich verstehe Musik immer als Bewegung – sowieso! – und ich denke, dass das Grundelement von Musik Tanz wie Sprache ist. Gerade die Tangos ... es gibt welche mit dem Sänger Roberto Goyeneche – beispielsweise die "Balada Para Un Loco", die wir auch spielen – die gehen eigentlich von der Sprache aus, wenn Goyeneche das singt, beziehungsweise, spricht. Das Spanische hat eine unglaubliche Sprachrhythmik, das liegt in der Natur dieser Sprache. Wenn wir das umsetzen, lediglich mit Geige und Akkordeon, dann darf dieses Erzählerische nicht fehlen.

Hier kommt auch eine körperliche Ebene dazu. Die Geige ist ja ebenfalls auf Bewegung angewiesen. Ich finde es ganz natürlich, dass die Bewegung des ganzen Körpers unmittelbar mit dem Ton zusammenhängt. Es gibt ja die Schule, die besagt, den Bogen nah am Steg zu führen, damit es lauter wird – und bei all dem möglichst keinen Aufwand sehen zu lassen! Ich hingegen denke, wenn man mit dem Bogen nur gerade soweit ausholt, wie für die Physik nötig, dann ist das zu wenig: Da kann ich auch nur einen "physikalisch klingenden" Ton erwarten. (lacht) Zum Musikmachen muss ich schon genauso ausholen wie es für die Musik nötig ist – und daraus ergeben sich dann auch mal ein paar Schritte. Alles im Dienst der Musik; das ist noch keine Choreographie!

Tobias: Wie kam es überhaupt zu dem Namen "Duo Diagonal" ?

Hans-Christian: Das ist eine nette kleine Geschichte: wir hatten uns in der Oldenburger Tango-Szene getroffen und dachten irgendwann, dass wir wohl einen Namen bräuchten. Der Begriff "Duo" war klar, aber wie weiter? Nun, wir haben ein spanisches Wörterbuch aufgeschlagen und mit dem Finger blind auf ein Wort getippt. Das war "Diagonal". (lacht)

Und je länger man sich das überlegt – und das sind jetzt schon neun Jahre! – umso treffender ist der Name. "Diagonal", das ist zum einen auch "ein bisschen schräg", bezeichnet andererseits aber auch "die Verbindungslinie mittendurch".

Tobias: Erklär das mal ein bisschen näher!

Hans-Christian: Der Tango ist auch so eine Quersumme. In den Einwanderervierteln von Buenos Aires konnten sich die Leute aus der ganzen Welt zunächst auf diesen einfachen 4/4-Rhythmus einigen. Und jeder brachte etwas ein, aus Russland, aus Europa – ein ganz buntes Gemisch.

Das gilt ja auch für uns beide: Ich komme aus der ehemaligen DDR und habe erst ganz klassisch Geige gelernt, dann in Theatern Musik gemacht und auch in Ensembles mit neuer Musik gespielt. Juri kommt aus einer ganz anderen Ecke, aus Tadschikistan, und hat Klavier und Trompete studiert. Erst hier in Deutschland fing er mit dem Akkordeon an. Als Duo sind wir immer auch eine interkulturelle Begegnung.

Tobias: Ihr habt euch in der Oldenburger Tango-Szene getroffen. Inzwischen gibt es überall Tango-Schulen. Wie erklärt ihr euch den großen Reiz, den Tango ausmacht?

Hans-Christian: Na, es ist schon etwas besonderes, Tango zu tanzen. Man zieht die guten Sachen an, verkleidet sich vielleicht sogar ein bisschen – es ist ja auch eine historische Musik! Dann gibt es natürlich auch diese Assoziation mit dem Rotlicht-Millieu. Die schwingt so als Parfum mit – ohne wirkliche Bedeutung, aber es ist eben doch ein Reiz. Deshalb heißt unser Album auch "Tango 040" – nach der Hamburger Telefon-Vorwahl: Die Reeperbahn als Assoziation ist immer dabei.

Tobias: Wie praktisch seid ihr denn noch dabei? Spielt ihr nur eure Konzerte, oder kann man euch auch sonst hören?

Hans-Christian: Oh, das ist ein bisschen unser Dilemma! (lacht) Wenn sie die CD hören, meinen Veranstalter immer, wir spielten Kunstmusik – es sei ein "Konzertprogramm". Aber in unseren Konzerten wollen die Leute immer wieder auch tanzen. Und natürlich spielen wir "nebenher" als Tanzmusiker auf Tango-Veranstaltungen, was richtig Spaß macht. Man steht nicht so im Mittelpunkt, kann ganz anders spielen. Entspannter.

Natürlich ist da nicht der Raum für großartige Improvisationen, aber an anderer Stelle ergeben sich auch Freiheiten. Wenn die Leute unsere Musik in Bewegung umsetzen und dabei Spaß haben, das ergibt eine enge Beziehung mit den Tänzern. Und auch im Tanzsaal können wir anspruchsvolle Sachen, beispielsweise von Piazzolla, spielen. Das gehört immer noch alles zusammen!

Tobias Richtsteig

CD: Duo Diagonal - "Tango 040" (Tropical Music / BMG 68.847)

Duo Diagonal im Internet: www.duo-diagonal.de

Tropical Music im Internet: www.tropical-music.de

 

 

TANGO DANZA

New York, New York!
Die Freude auf die Tournee war groß. Glamorous ging sie allerdings nicht gerade los.
„Jury kam total vergrippt zum Flughafen. Und ich hatte nachher auch eine dicke Erkältung. Zum Glück gibt’s da an jedem Kiosk Tabletten, und Antibiotika sind auch immer gleich drin. In den USA im Bett liegen, das kam natürlich nicht in Frage“ , sagt Hans-Christian Jaenicke. Der Hamburger Geiger schaut schmunzelnd zu Jury rüber. Jury lebt in Oldenburg, heißt eigentlich Jörg Siegloch, ist Akkordeonist und wird Jury genannt, weil er deutschstämmiger Russe ist. Er kann sich noch gut an die Reise erinnern: „Es ging furchtbar los.“ Das war 2004. Und dann wurde es eine grandiose Fahrt für das Duo, das seit fast zehn Jahren mit seiner ungewöhnlichen Besetzung die schillernde Tango-Szene um eine Facette reicher macht. Jetzt haben die beiden die lang erwartete zweite CD vorgelegt.


„Wir sind schon so oft gefragt und auch ein bißchen gedrängelt worden. Und weil wir im Oktober keinen Auftritt hatten, dachten wir: Das ist die Gelegenheit. Also haben wir die Zeit genutzt und die zweite CD eingespielt“, erzählt Hans-Christian Jaenicke. Aber so viel Zeit gab es nun auch wieder nicht. In zwei Wochen mußte die Sache stehen: eine Woche Probe, eine Woche Aufnahme. Dann wollten andere Musiker ins Berliner Studio. Für das Duo, das eine Menge Ideen und gut zu tun hat, war das ganz in Ordnung, denn neben Konzerten stehen häufig auch Engagements für kleinere Tanzsalons im gut gefüllten Terminkalender. „Es gibt eine Reihe von Privatinitiativen, die größere Räume haben und Salonmusik im eher familiären Kreis organisieren, hier in Hamburg-Othmarschen beispielsweise oder auch im Schloß Reinbek. Das ist eine schöne Sache“, sagt der Geiger.
Und dann sind da natürlich noch die Tourneen. Ein bis zwei Mal im Jahr sind die beiden unterwegs. Es lebe der Kontrast: Zuletzt tourten die Musiker durch Bayern - davor rief Amerika. Und diesem Ruf muß man einfach folgen. Da ist selbst eine Grippe machtlos.

Sie spielten im brodelnden New York, in den alten Clubs von Duke Ellington in Washington und traten dann zum krönenden Abschluß bei einem Empfang vor der versammelten High Society der Hauptstadt auf. Selbst der Bürgermeister war gekommen. Und das alles zu Ehren von Winston Marsalis.
Mit Geige und Akkordeon besangen sie das Schicksal von ‚Malena‘ , ließen sie den „Media Luz“ aufgehen und beschworen den ‚Libertango‘. Ein langer Weg lag da hinter den beiden deutschen Musikern - und damit ist nicht der Sprung über den großen Teich gemeint.
Duo Diagonal – dieser Name ist Programm: Es ging kreuz und quer, bevor die beiden zum Tango kamen. So hatte bei einem seiner vielen musikalischen Experimente schon mal „Das weiße Rößl“ aus der Operettenwelt die Bahn von Hans-Christian Jaenicke gekreuzt. Und Jörg Siegloch war bereits von Marschmusik begleitet seinen Weg gegangen.

Daß aber auch Johann Sebastian Bach schon vor dem Tango aufgetaucht war, und zwar auf dem Weg beider Musiker, ist entscheidend: Der barocke Meister hat eine Spur hinterlassen, die zum grundsätzlichen Einverständnis des Duos führt, ein Einverständnis, das sich auch ohne lange Verabredung einstellt und intensives Musizieren aus einem glücklichen Augenblick heraus möglich macht. Duo Diagonal – der Name ist Programm. Das wurde den beiden allerdings erst hinterher klar. Zustande kam er ohne langes Grübeln und hintersinniges Überlegen. Das ging ganz unkonventionell zu und eben auch irgendwie schräg: Die beiden holten sich ein spanisches Lexikon und ließen den Zufall mitspielen. Und siehe da: Der Finger landete auf dem Wort Diagonal. Jury: „Damit konnten wir erst gar nichts anfangen.“ Die Musiker waren enttäuscht. So richtig spanisch klang das irgendwie auch nicht. Hans-Christian: „Aber dann dachten wir uns: Um so besser. So sind wir durch den Namen nicht festgelegt und stilistisch frei.“

Und diese Freiheit hat für das Duo Priorität: Immer wieder in die Musik hineinhören, neue Fragen stellen, neue Antworten finden, aufmerksam sein, miteinander im Gespräch bleiben - darum geht es ihnen. Hans-Christian Jaenicke: „Beim Musizieren ist es wie beim Tanzen. Die Frau spürt nach: Wie führt er? Kann ich mich darauf verlassen? Was geschieht als nächstes? Und er gibt Impulse, antwortet, reagiert. So entstehen immer wieder neue Schritte und eben auch neue Klänge. Diese Begegnung – das ist der Tango.“

Das Duo Diagonal erblickte 1996 das Licht der Tangowelt. Der gemeinsame Anfang der Instrumentalisten, die sich 1991 an der Oldenburger Universität kennengelernt hatten, war das jedoch keineswegs. So wie jeder für sich schon musikalisch verschlungene Pfade gegangen war, verfolgten sie nun auch als Duo nicht den geraden Weg. An den Start gingen die beiden mit Noten für Klassik und Romantik im Gepäck und vor allem mit der Begeisterung für stimmungsvolle Salonmusik. Sie legten schmissige Zigeunerweisen von Sarasate hin, holten tief romantische Werke von Brahms raus und begeisterten mit gefühlvollen russischen Kompositionen: die ganze anspruchsvolle Virtuosen-Literatur dieses Genres. Das Oldenburger Salon-Duo war in Fahrt gekommen. „Manchmal haben wir zehn Stunden am Tag gespielt“, erzählt Hans-Christian. Es wurde improvisiert. Neue Stücke wurden ausprobiert. „Das war eine sehr intensiv Phase. Wir haben vieles erarbeitet, was wir jetzt noch nutzen“, schildert Jury den Anfang. Als Straßenmusiker reisten die Freunde schon damals durch die Weltgeschichte: In Rom, in Paris, überall spielten sie auf. Nun ist die Oldenburger Uni nicht so klein, daß man sich unbedingt kennenlernen muß.
Wie fand man zueinander?
Jury ist nicht der Mann der großen Worte, aber bekanntlich treffen sparsame Äußerungen oft mitten ins Schwarze. Bei Jury war es so, auch wenn er nicht sprach, sondern einen Stift zu Hilfe nahm: Mit einem kleinen Papier für das Schwarze Brett in der Uni zettelte er sprichwörtlich alles an. Die Zauberworte lauteten: „Tausche Russisch gegen Deutsch“. Als Rußlanddeutscher aus Tadschikistan hatte er einiges aufzuholen.


Hans-Christian Jaenicke ging es merkwürdiger Weise ähnlich. „Ich bin in der ehemaligen DDR aufgewachsen, in Treuenbrietzen bei Berlin. Und da hab‘ ich mir gedacht: Mensch, da ruf ich mal an! Die anderen konnte alle Englisch und Spanisch. Ich wollte wenigstens meine Russisch-Kenntnisse aufbessern.“ Daraus wurde dann allerdings nicht viel. Der Blick des Geigers fiel auf das Akkordeon. Und das war’s.

Jurys Deutschkenntnisse sind trotzdem wunderbar. Schließlich ist der Akkordeonist nicht nur freischaffender Künstler, er unterrichtet auch zahlreiche Schüler. Und ohne Worte, wie in den vielen kleinen Sternstunden mit dem musikalischen Partner, funktioniert das nun mal nicht. Wie es um das Russisch von Hans-Christian steht? Der argentinische Tango kommt zum Glück ganz gut ohne aus.
Aber wieso eigentlich Tango?
Ging es nicht um Salonmusik? „Es war einfach so, daß das perfekte Nachspielen von Stücken und das Virtuosentum auf Dauer nicht befriedigend waren, zumal viele dieser Kompositionen auch jede Menge Klischees bedienen“, schildert der Hamburger Geiger den Übergang.

Und da blitzt er wieder auf, dieser Wunsch, schöpferisch an die Musik heranzugehen, Nähe herzustellen und Begegnung - mit dem Mitspieler und dem Zuhörer. Was für andere ein hohes Ziel ist - für das Duo Diagonal ist es ein Graus: „Viele haben den Ehrgeiz, den Klang so abzumischen, daß sie meinetwegen genauso klingen wie Pugliese. Aber es muß auch etwas anderes her!
Die Suche nach dem eigenen Profil treibt auch das Duo Diagonal um. „Allein mit u nserer Besetzung können wir Innovatives bewerkstelligen“, sagt Hans-Christian Jaenicke, „und sei es, daß es auf der Bühne passiert, während des Auftritts. Wir vertrauen dabei ganz auf unsere Instrumente und auf unsere Gefühlswelt.“
Brahms und Sarasate geben in dieser Gefühlswelt nicht mehr den Ton an. Ein bißchen wie von Zauberhand führte der Weg die beiden Musiker zu Pugliese, Piazzolla und Co. Magie scheint im Spiel zu sein. Aber in Wirklichkeit war es wohl doch eher der Regisseur Thomas Lotte an der Oldenburger Universität, der Jury und Hans-Christian für die Bühnenmusik engagierte. Und da er damals ein Tango-Studio aufbaute, lernten die beiden im Gegenzug, wie ein Ocho geht du was ein Gancho sein könnte.
Hans-Christian: „Es ist wichtig, daß der Musiker eine Vorstellung von der Dynamik haben muß, so wie der Tänzer. Wenn er nicht weiß, wo er steht und wohin er will, hat er keine Chance.“

Sechs Jahre nachdem sich Hans-Christian Jaenicke und Jörg Siegloch kennengelernt hatten, gaben sie im Eigenverlag ihre erste CD heraus: „Tango Diagonal“. Es wurde ein Klassiker, der mehrfach aufgelegt wurde und nur noch in kleiner Stückzahl bei den Künstlern selbst zu haben ist. Jury: „Ich mußte mir damals extra ein Instrument leihen.“ Sein kleines Knopfakkordeon aus Rußland reichte für die CD nicht. „Ich fuhr nach Hannover und holte mir ein Akkordeon von einer Italienierin.“ Jury weiß das noch genau. Inzwischen hat er selbst ein schönes Instrument, ein Pigini-Akkordeon. Und darüber freuen sich nicht nur seine zahlreichen Schüler in Oldenburg, sondern auch sein fünfjähriger Sohn Eric, der es schon mal ausprobiert hat. Zur Zeit hat es dem aber doch mehr die Geige angetan. „Das ist mal wieder typisch“, flachst Hans-Christian, „da ziehst Du unsere eigene Konkurrenz ‘ran.“
Klavier findet der kleine Eric aber auch ganz toll, so wie der Papa eben. Denn bei Jury ging es gar es nicht mit dem Akkordeon los. In seiner Heimatstadt Tschakalowsk bekam Jörg Siegloch jahrelang Unterricht an einer Schule für begabte Kinder. Seine Fächer: Klavier und Trompete. Und diese Instrumente studierte er dann auch, um im Anschluß als Militär-Kapellmeister nach Kirgisien zu gehen. „Posaune spiele ich auch“ sagt Jury. Klar, daß er mit Begeisterung in einer Combo mitjazzte. Aber dann wollte er weg von der Blas- von der Militärmusik und studierte vier Jahre Höheres Lehramt mit Hauptfach Akkordeon. Er hatte das Instrument früher schon mal gespielt, und als eine Art transportables Klavier schien es ihm für Unternehmungen in der Schule besser geeignet zu sein. Nicht nur Tangofans profitieren jetzt davon. Auch deutsche Shanty-Chöre haben sich gern von Jury begleiten lassen..
Mit Prädikats-Diplomen in der Tasche kam Jörg Siegloch 1989 mit seinen aus dem Schwäbischen stammenden Eltern nach Deutschland - und mußte noch einmal studieren, denn für das Höhere Lehramt wurden ihm an der Universität Oldenburg nur sechs Semester anerkannt. „Ich mußte auch noch ein weiteres Nebenfach dazunehmen: „Technik und Arbeit-Wirtschaft. Ich wußte gar nicht, was das ist.“ Das reichte aber immer noch nicht. Neben Musik braucht der Rußlanddeutsche ein zweites Hauptfach, und so wählte er nichtsahnend Russisch. Daß ihm gerade dieses Fach Probleme machte, nennt man wohl Ironie des Schicksals. Jury: „Es ging gar nicht um die Sprache selbst. Im Mittelpunkt stand Literaturwissenschaft, und zwar auf einem Niveau, das nicht mal in Moskau an der Uni herrscht.“ Polnische Literatur und Sprachwissenschaft kamen noch obendrauf. Und dabei wollte Jörg Siegloch doch nur Akkordeon spielen und Musik unterrichten. Und das tut er jetzt auch.
Hans-Christian Jaenicke hat während seiner Laufbahn ebensolche Kapriolen geschlagen. Mit sechs erhielt er den ersten Geigenunterricht, mit neun Jahren zusätzlich Theorie und Gehörbildung. Während des Studiums in Oldenburg schrieb er für das dortige Staatstheater Bühnenmusik - für Wedekinds „Frühlings Erwachen“ und für den „Kuß der Spinnenfrau“ von Manuel Puig. Nach dem Studium arbeitete er als Solist und Konzertmeister mit verschiedenen Orchestern. Und vor allem galt seine Liebe der Kammermusik. „Ich bin sehr viel mit dem Amsterdamer Klavierquartett getourt und aufgetreten“, sagt der Hamburger. Auch da gab es wie im Zusammenspiel mit Jury die intensive Begegnung mit Schumann, Brahms und der ganzen romantischen Musik. Aber Bach, der ihn vorher schon ereilt hatte - besonders im Unterricht mit Veronika Skuplik von den Londoner Barock Players - war das größere Erlebnis.
Bach begleitet den Geiger bis heute, bis in die Tanzsalons. „Barockmusik hat viel mit Tango zu tun“, sagt Hans-Christian Jaenicke mit Nachdruck. „Es ist beides rhetorische, stark sprechende Musik, die von der Agogik lebt, von der freien Gestaltung.“ Daher seine Liebe zur Kammermusik, als kreatives Gespräch der Musiker. Daher seine Liebe zum Tango, der melancholisch mit sich selbst spricht, der klagend um Antwort bittet, der die Begegnung sucht und in einem nie zu Ende gehenden Dialog die Tänzer auffordert, ihm immer neue Gestalt zu geben.
So vielfältig und reich die Musik ist - Hans-Christian Jaenickes Gestaltungswille sprengt diesen Rahmen: Er studierte in Oldenburg nicht nur Musik, sondern auch Kunst. Vor kurzem hat er in der Arnoldstraße in Hamburg-Ottensen ein eigenes, kleines Studio aufgemacht. „Ich möchte mit Lesungen, Kammerkonzerten und Ausstellungen einen Experimentier-Raum ins Leben rufen“, sagt der Hamburger. Er malt abstrakt.
Auf einem seiner Bilder sind Tangoschritte zu sehen, so wie ein Künstler dieses ebenso komplizierte wie reizvolle System festhält. Auch am Wettbewerb für die Torontobrücke am Hamburger Stadtpark hatte sich der Künstler beteiligt und einen Entwurf eingereicht.
Aber das ist nun wirklich ein andere Geschichte.

(das Interview führte Martina Tabel)