Das breitere Publikum reagiert immer noch mit Unverständnis oder Ablehnung auf Objektkunst und Installationen. Dies ist nicht weiter verwunderlich, wenn wir die Zeiträume betrachten, in denen sich Hör-, Lese- und Sehgewohnheiten im Bereich der Klassischen Künste verändern. Kaum einer wird den 1928 geborenen Komponisten Karl-Heinz-Stockhausen zu seinen Liebligskomponisten zählen, der bereits in den 1950er Jahren seine ersten Erfolge im Bereich der Elektronischen Musik feierte. Wer sich jedoch mit der Kunst des 20. Jahrhunderts beschäftigt hat, wird feststellen, dass Hans-Christian Jaenicke mit geradezu klassischen Ausdrucksmöglichkeiten der zeitgenössischen Kunst arbeitet. Ich sage bewusst "Ausdrucksmöglichkeiten" und nicht "Rückgriffen", denn jeder der folgenden Vergleiche hinkt: der Künstler arbeitet schließlich mit seiner eigenen Gedanken- und Assoziationswelt.
Objekte der Alltagswelt zu Kunstgegenständen oder zu Teilen von Kunstwerken zu erklären, wie es bei Jaenicke geschieht, ist seit Marcel Duchamp möglich. Er erschloss dem ästhetischen Bewusstsein eine neue Dimension, deren Entwicklung offensichtlich bis heute nicht abgeschlossen ist.
Die Erklärungen für Duchamps ersten Griff zum vorfabrizierten Industrieprodukt sind Legion. Was davon geblieben ist, ist "die Kunst vom Sockel zu holen" und an ihrer Stelle als Kunst zu definieren, was künftig auf den Sockel der bildenden Kunst gehoben wird. Kunst war für Duchamp eine Setzung, eine Vereinbarung. Und auch Hans-Christian Jaenicke teilt uns durch die Wahl seiner Objekte - Schubkarre, Sand, Paletten, Absperrband, Schraubzwingen - mit, dass wir es hier mit einer Baustellen- und Arbeitssituation zu tun haben, die in den Rang einer künstlerischen und damit intellektuellen Situation gehoben wird. Dies würde auch dann funktionieren, wenn das Museum den Titel der Installation "Baustelle - die Puls - Installationen" nicht an die Wand geschrieben hätte.
Was Jaenickes Readymades - Schubkarren, Paletten, Schraubzwingen -, wenn sie denn überhaupt solche sind, von denen Duchamps unterscheidet: Jaenicke hebt sie nicht auf den Sockel eines neuen und isoliert zu betrachtenden Kunstwerks, sie werden nicht durch Signatur und Datierung geadelt, statt dessen ordnen sie sich einem größeren Zusammenhang unter und bleiben ohne jede Assoziation an Vorbilder der Kunstgeschichte.
Haben die von Jaenicke verwendeten Readymades eine surreale Dimension, wie etwa die Objekte von Man Ray? Ich erinnere an "Das Geschenk" von 1921, ein um 90 Grad gedrehtes Bügeleisen, in dessen Gleitflächen 13 Polsternägel eingelassen waren und das sich wie ein spitzbogiges Monument erhob. Ähnlich surreal verfremdet Jaenicke die vorgegebenen industriellen Produkte: Schraubzwingen verwendet er zur Positionierung von Objekten in einem nicht wirklich existenten physikalischen Versuch, Schläuche und Kabel scheinen Paletten und weiße Kästen mit einer Energie zu versorgen, die es nicht gibt, Kabel und elektroklemmen nehmen Energie an den Fotoplatten von Emil Puls ab, die nicht wirklich existiert. Doch auch hier gilt die Einschränkung: Jaenickes surreale Verfremdungen generieren kein neues, eigenständiges und geadeltes Kunstwerk, sondern sind Teil einer übergeordneten Gedankenwelt, einer umfassenderen Installation.
Ist diese Installation, die mit Schubkarren, Arbeitsmaterialien, montierten Werkstücken und gefundenen Objekten - nämlich den originalen und von Sturm und Wasser zerstörten Fotoplatten des Altonaer Fotografen Emil Puls - arbeitet, möglicherweise Überbleibsel einer Aktion und steht sie damit Fluxus und Happening, Prozesskunst und Environment nahe? Aktion und Prozess, nämlich das Bergen der originalen Fotoplatten von Emil Puls und der Aufbau der Installation sind dem Kunstwerk "Baustelle" vorangegangen, insofern sind sie integrativer Bestandteil der Installation. Sie geschehen jedoch nicht wie bei Fluxus und Happening vor den Augen des Publikums, sind also nicht das Kunstwerk selbst.
Jaenicke arbeitet mit der Architektur, deren Proportionen und Strukturen sich in der Installation wiederfinden, und er arbeitet nach Plan.
Sein Ziel ist das funktionierende, begehbare Kunstwerk, das Environment - in diesem Fall die Baustelle -, das sich aus einzelnen Installationen zusammensetzt.
Ich erinnere an Joseph Beuys, der nach Plänen und Partituren arbeitete und von 40 Jahren eine Objekt- und Raumsprache entwickelte, die viele mit seinem Tod 1986 todgeglaubt und todgeredet haben.Dass er stilbildent wirkte zeigt dieses aus mehreren planvollen Installationen komponierte Environment von Hans-Christian Jaenicke. Als seien es Relikte aus planvoll erarbeiteten Aktionen, kombinieren sich seine Installationen aus historischen Relikten _ den gefundenen Fotoplatten von Emil Puls - Arbeits- und Baustellenutensilien sowie intellektuell, surreal verfremdeten und aufgeladenen Versuchsanordnungen. Die Fotoplatten dienen als Träger ebenso historischer wie aktueller Energien, die Kraftfelder erzeugen, Arbeitsmaterialien aufladen und die in den zur Verfügung stehenden Raum abgeleitet werden.
Es muss auch in diesem Zusammenhang an Beuys erinnert werden. Ein radikales Analogiedenken ließ ihn selbst Sprache, Denken, später auch soziale und politische Aktivitäten als plastische Tätigkeiten ansehen. Ähnlich arbeitet Hans-Christian Jaenicke, der so viel jüngere Künstler, dessen Geburtsjaht 1969 17 Jahre vor dem Tod von Joseph Beuys liegt, und der sich allenfalls die Formenspracheanverwandelt haben kann: Fotografie dient bei ihm als Energieträger einer intellektuellen Bewältigung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen dem Leben von Emil Puls in dem durch den Krieg untergegangenen Altona und unserer heutigen Lebenssituation.
Drähte und Schläuche fungieren als Leiter, metallische Materialien als übermittler von Energie, organische, nicht leitende Materialien wie Holz und Styropor als Gegenüber und Äquivalent zu dem, was wir selbst sind: Rezeptoren oder Isolatoren einer historischen und intellektuellen Energie, die wir aufzunehmen bereit sind - oder auch nicht.
Wir werden nicht umhinkommen, zwei weitere Strömungender Objektkunst des 20. Jh. zu benennen. Auf dem Höhepunkt der Objektkunst Anfang der 60er Jahre wurden auch die Readymades und die gefundenen Objekte negiert. Kuben, modulare Gitter, Bodenplaqtten, Leuchtstoffröhren und genormte Kästen breiteten sich in serieller Anordnung aus. Die Negierung des Gegenstandes wurde zum eigentlichen Gegenstand der Kunst. Aus dieser Strömung blieben bei Hans-Christian Jaenicke weiße Kästen, Kuben, Tabletts und Bausteine, weiße Stäbe und rotweiße Absperrbänder als serielle Gegenstände, die keine wirklichen Objekte mehr sind.
Hier gibt es eine enge Verbindung zu seiner Malerei, die sich durch ebenso weiße Flächenmit seriellengeschriebenen Chiffren auszeichnet. Dieser Minimalismus kennt keine Form und keinen Inhalt, sondern beschreibt das Verhältnis des Betrachters zum Objekt, in seiner veränderten ästhetischen Erfahrung. Zu dieser minimalistischen bildnerischen Sprache Jaenickes können in der Malerei und Objektkunst einfache und "arme" Materialien hinzutreten.
Solche "Arme" Materialien zählen zu einer letzten Kategorie der zeitgenössischen Kunst, derer sich Hans-Christian Jaenicke bedient. Als Antwort auf die nichtobjekthafte serielle Kunst entstand Ende der 60er Jahre die Postminimal Art inGestalt der Arte PoveraDie Plastik widersetzte sich dem Formalismus der Minimal Art durch veränderliche Materialien wie Glasfaser, Filz oder Gummi. Flexibilität, Ausdehnung, Gewicht und Gravitation, Druck und Zug kamen als eigene plastische Themen auf. Skulpturen konnten jetzt nicht nur stehen, sondern lehnen, hängen, knicken, spannen, fließen und erstarren. Auch diese Tendenzen können Sie in Jaenickes Environment beobachten: hängende und auf Zug und Spannung angebrachte "arme" Materialien wie Taue und Kabel, Holzpaletten als lehnendes "armes" Material, Sand als "arme" amorphe Masse.
Jaenicke verwendet also ein breites Vokabular der Kunst des 20. Jahrhunderts: Objets trouvées und Readymades, Prozess- und Aktionskunst, Installation und Environment, Materialprozesse und Physikalität , Arte Povera, Material- und Energiesymbolik, Minimal-Art, Inteöllektualismus und Internsivierung der Sinne geben sich die Hand, stehen einander gegenüber, heben sich gegenseitig auf. So ist Jaenickes "Baustelle" auch im Hinblick auf das künstlerische Vokabular ein - wie der Künstler schreibt: immerwährender "Prozess der Korrektur, bei dem ästhetische und zweckmäßige Neuwertungen stattfinden. Sich schließende Systeme werden durch Korrekturen aufgebrochen, um kommunikationsfähig zu bleiben." Kommunikation findet also bei Jaenicke auch innerhalb verschiedener künstlerischer Vokabulare statt - ohne dass es dem Betrachter immer sofort auffallen mag, denn darüber hinaus fokussiert der Künstler seine Arbeit auf das Inhaltliche.
Im Zentrum jeder einzelnen Installation stehen jene Fotoplatten, die der Künstlerim Jahr 2002 von der Straße weg rettete, Fotoplatten, die zum Nachlass des Altonaer Fotografen Emil Puls gehörten, der der 1976 mit einem Bestand von über 6000 Glasplattennegativen ins Altonaer Museum gekommen war. Dieser Nachlass stellt heute einen außerordentlich bedeutenden Schatz dar.
Die Sensibilität des Künstlers brachte in fünf Objekten zutage, was Museumswissenschaftler in jahrelanger Arbeit erforschen und dokumentieren: dass das historische Objekt, die historische Ansicht als Energieträger für die erkenntnis unserer Gegenwart dienen kann. Ohne Geschichte sind wir nichts, oder um es mit den Worten des Künstlerkollegen Gert Fabritius zu sagen: "Denn wir sind nur das, was wir nicht vergessen haben.".
"Zeppelin über Altona, "Kleine Papagoyengasse", "Badende Knaben", "Linienschiff Hessen", "Rede von Max Brauer": Die Bildthemen von Emil Puls hatten Bedeutung für die damals Lebenden, sie eröffnen die historische Dimension für das Leben in dieser Stadt und bilden die Grundlage für die Arbeit von Hans-Christian Jaenicke, der uns in der Formensprache des 20. Jahrhunderts sein Gedankengebäude mitzuteilen hat.
(AXEL FEUß, Hamburg, 2004)